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ARCHITEKTUR IN INDIEN

C.N. Raghavendran ist ein freundlicher älterer Herr. Er steht

für jene Generation hochgebildeter Inder, deren Wurzeln

noch in die britische Kolonialherrschaft reichen und die

zugleich das riesige Land zu einer führenden Industrienation

gemacht haben. Die Geschwindigkeit, in der dies geschah,

war atemberaubend – und sie ist es immer noch. Wenn der

Geschäftsführer und Inhaber des Architektenbüros CRN in

der Millionenstadt Chennai sein Werkverzeichnis aufblät-

tert, wird klar, dass er mit seinen Arbeiten einen guten Teil

zum Aufbau dieser Nation geleistet hat.

Wirtschaftlicher Aufschwung

Hat er nicht jüngst ein großes Business-Center in

Bangalore, der Welthauptstadt der IT-Dienstleister eröffnet?

Welches? Es waren so viele in den vergangenen Jahren.

Und welches Automobilwerk war sein wichtigstes? Das

für Toyota oder für Hyundai? Für General Motors oder für

Maruti Suzuki? Mehr als 300 Mitarbeiter realisieren die bau-

lichen Anforderungen des wirtschaftlichen Aufschwungs,

und Raghavendran weiß sehr gut, dass Indiens Architektur

noch keineswegs eine eigene Haltung gefunden hat. Es

wäre leicht, dies mit europäischer Überheblichkeit zu kri-

tisieren. Doch wo war Deutschlands Architekturhaltung

in der hektischen Phase des Wiederaufbaus nach dem

Zweiten Weltkrieg? So wie hierzulande zerbombte Städte

wieder aufgebaut werden mussten, so werden in Indien

rasant wachsende Millionenmetropolen in wenigen Jahren

auf links gedreht – obwohl es doch eigentlich völlig neue

Städte bräuchte.

Britischer Einflussbereich

Raghavendrans Büro CRN zählt zu den traditionsreichs-

ten des Landes. Gegründet wurde es von seinem Vater zu

Beginn der 1940er-Jahre. Wer damals Aufträge wollte, der

musste mit einem der britischen Büros zusammenarbeiten.

Denn die Kolonialherren vertrauten nur ihren Landsleuten

– und diese prägten den Kontinent und gaben ihm

Infrastrukturen, die für einen modernen Staat unerlässlich

sind. Die Architektur, die sie schufen, war eine teils krude

Mischung aus britischer Architektur und indischer Mogul-

Architektur. Schon die Engländer schafften es nicht, dem

Land so etwas wie eine nationale Architektur überzustülpen

– ist der indische Nationalbegriff doch sowieso ein eher

theoretischer. Zwischen dem Himalaya und der Südspitze

werden 22 verschiedene und in der Verfassung anerkannte

Hauptsprachen gesprochen – und je nach politisch moti-

vierter Zählweise bis zu 200 weitere, die kaum jemand ein-

zeln benennen kann.

Britische Gütesiegel

Neben Hindus, Moslems und Christen leben hier alle vor-

stellbaren religiösen Minderheiten. Und die nordindischen

Brahmanen oder Sikhs haben genetisch herzlich wenig mit

den Tamilen im Süden oder den aus dem Iran stammen-

den Parsen in Mumbai zu tun, dem ehemaligen Bombay.

Sprachlich ist Englisch der kleinste gemeinsame Nenner

– und architektonisch war es bis vor nicht allzu langer Zeit

die RIBA-Anerkennung. Ohne das britische Gütesiegel

war auch nach dem Abzug der Kolonialherren kaum ein

Auftrag zu gewinnen. Und dies, obwohl die Engländer auch

architektonisch nahezu geschlossen zurück ins Mutterland

zogen. Die großen Büros verkauften ihre Anteile an die indi-

schen Partner und hinterließen ein Architekturerbe, das mit

Indien wenig zu tun hatte.

Gandhi der Architektur

Eine Ausnahme war der indisch-britische Architekt

Laurence Wilfred „Laurie“ Baker. Er verwendete in

seinen Bauten nur lokale Materialien, bediente sich

lokaler Techniken und setzte örtliche Handwerker ein.

Der 2007 90-jährig im südindischen Bundesstaat Kerala

Verstorbene wollte zu seinen Lebzeiten dem indischen

Volk das Bauen zurückgeben. Mit Nachhaltigkeit,

bezahlbaren Konstruktionen und einer wirklich indi-

schen Formensprache. Nicht umsonst wurde er

„Gandhi der Architektur“ genannt. In seiner Wahlheimat

genoss er höchste Wertschätzung. Doch er blieb eine

Ausnahmeerscheinung.